Yangisierung & Yinisierung in den Fünf Wandlungsphasen

Das Verständnis der TCM setzt eine ganzheitliche Sicht voraus

Immer wieder tauchen Verwirrungen und scheinbare Widersprüchlichkeiten in der Anwendung der Fünf Wandlungsphasen und ihrer Lesart im Sinne von Yin und Yang auf.

Yin, als die „beschattete Seite des Berges“ (wörtliche Übersetzung des chinesischen Schriftzeichens) führt Eigenschaften wie dunkel, kühl, feucht, formlos, weich, ausdehnend und passiv mit sich. Sie beschreibt die Energieform, die von der Erde aus in Richtung Kosmos – also zentrifugal – wirkt. Yang, als die „sonnenbeschienene Seite des Berges“ führt die komplementären Eigenschaften und ist die „Himmelsenergie“ – also die Kraft, die vom Kosmos aus auf die Erde wirkt (zentripetal) und zu Materialisierung führt.

Ein klassischer „Stolperstein“ beim Verständnis der Feuerphase ist die Aktivität des Feuers und seine Hitze, die nahelegt, daß hier viel Yang präsent ist. Nach der von mir gebrauchten Auffassung (und der meiner Lehrer) ist die energetische Wandlungsphase des Feuers der Punkt, an dem das Yin sein Maximum erreicht – und in das Yang kollabiert, um sich in die Energetik der Erdphase zu wandeln.

Wie geht das zusammen ?
Ist Feuer nun yin oder yang ?
Findet auf der östlichen Seite der Wandlungsphasen eine Yinisierung oder eine Yangisierung statt ?

Laßt uns ein paar unterschiedliche Perspektiven einnehmen.

Was sagt der „Gelbe Kaiser“

Der Gelbe Kaiser – oder ausführlich: Pinyin Huángdì Nèijīng – gilt als eines der ältesten Standardwerke der chinesischen Medizin. Das Problem mit diesem Standardwerk ist

  1. daß Sprachgebrauch und Beobachtungsweise der Menschen von vor knapp 2000 Jahren im Alten China mit ihren komplexen und abstrakten Bildern nahezu inkompatibel mit unserer heutigen Auffassungsfähigkeit sind
  2. daß die Übersetzungen dieses alten Textes in den bestehenden Versionen so eklatant unterschiedlich sind, daß Inhalte zum Teil entgegengesetzt dargestellt werden.

Um dies zu verdeutlichen, findest Du am Ende dieses Artikels das für unsere Fragestellung relevante 5. Kapitel des 2. Buches – einmal übersetzt von Ilza Veith (1949) und einmal von Maoshing Ni (1995). Die hier gemachten Zitate stammen aus der Übersetzung von Ilza Veith.

Im Neijing heißt es zur Frage des Yin und Yang in der Feuerphase:

Das universelle YIN und YANG wandelt sich in die 5 irdischen transformativen Energien(…). Diese 5 Elementarphasen entsprechen den 3 YIN und den 3 YANG des Universums, ..“ (Buch 3)

 YangYinEnergiefülle
FeuerGroßes Yang +Kleines Yin+
ErdeSonnenlicht (yang max) ++Großes Yin ++++
MetallSonnenlicht ++Großes Yin ++++
WasserSonnenlicht ++kleines Yin++
HolzKleines YangAbsolutes Yin (yin max) ++++

Der Himmel ist nicht vollständig nur mit dem Norden und dem Westen. Westen und Norden (und somit in der Lesart der Fünf Wandlungsphasen Erde und Metall) sind die Bereiche des Yin“ (Buch 3)

Die Essenzen des Yang vereinigen sich und steigen zum Himmel auf; die Essenzen des Yin vereinigen sich und steigen zur Erde herab“ (2. Buch Kapitel 5)

Wasser repräsentiert Yin, und Feuer repräsentiert Yang“ (2. Buch Kapitel 5)

Hier könnten wir mit unseren Untersuchungen bereits enden – hier steht: Feuer ist yang. Yang steigt zum Himmel auf.

Damit hätten sich unzählige Lehrer und erfolgreiche Heiler wie George Oshawa (Yukikazu Sakurazawa), Michio und Aveline Kushi (meine Lehrer), Cornellia und Herman Aihara, Steve Acuff uvm. bei der Annahme, daß yang zusammenziehend und yin ausdehnend wirkt, geirrt und auch ich hätte in den letzten 32 Jahren eine „verkehrte“ Yin-Yang-Zuordnung zu den Fünf Wandlungsphasen vermittelt.

Das wäre nicht wirklich schlimm, denn die Eigenschaften der Wandlungsphasen und ihre Korrelation zu bestimmten Verfasstheiten und zu bestimmten Heilpflanzen bleibt hiervon ja unbeeinträchtigt.
(und diese finden sich im 1. Buch Kapitel 4)

Doch ich möchte mich nicht so einfach zufrieden geben und suche nach der Erklärung, warum meine verehrten Lehrer und auch ich an diesem wichtigen Punkt – Yang = Kontraktion= zentripetal // Yin = Expansion = zentrifugal – eine dem Neijing entgegengesetzte Sicht haben.

Haben wir wirklich ?

Lesen wir noch einmal, was oben so selbstverständlich klang:
Die Essenzen des Yang vereinigen sich und steigen zum Himmel auf; die Essenzen des Yin vereinigen sich und steigen zur Erde herab“ (2. Buch Kapitel 5)

Hier steht nicht: Yang steigt auf. Hier steht: Die Essenzen … vereinigen sich, bilden etwas. Und damit schaffen sie ihren Urgrund. (Yang/Himmerl, Yin/Erde)

Im 2. Buch des Neijing heißt es:
Yang steht für Frieden und Ruhe. Yin für Rücksichtslosigkeit und Aufruhr. Yang steht für Zerstörung; Yin für Erhaltung.“
Das klingt wie ein Widerspruch, nicht ?

Yin ist das Aktive im Inneren und wacht über Yang. Yang ist aktiv im Außen und reguliert Yin. (…) Wenn das Yang überwiegt, ist der Körper heiß, die Poren schließen sich, sie werden grob

Und weiter

Das große Yang sitzt im Erdboden und enthält das kleine Yin. Wenn das kleine Yin über der Erde aufsteigt kommt es in den Wirkungsbereich des großen Yang. (…) Das große Yin  ist die Verbindung zwischen dem Leben und dem Tor zum Leben (Fortpflanzung) und damit wird deutlich, daß das große Yin dort genauso auch ein Yang ist. Es ist im Körper und darüber und wird „strahlender Raum“ genannt; doch wenn diese strahlende Ausdehnung seine Strahlen nach unten (in die Materie) sendet, dann nennen wir es Großes Yin. Das Antlitz des Großen Yin ist bekanntermaßen beschienen vom Sonnenlicht (maximales Yang) Großes Yang wirkt als öffnender Faktor, das „Sonnenlicht“ als bedeckender Faktor und das Kleine Yang als Achse oder Zentrum“. (2. Buch)

Yin also doch aufsteigend und Yang in den westlichen Elementen ?
Diese sehr komplexen und abstrakten Ausführungen geben uns eine Ahnung davon, daß die Weisen, denen wir mit dem Verständnis der TCM folgen wollen, nicht in den ein-eindeutigen Kategorien beobachtet und gedacht haben, wie wir es tun. Yin und Yang sind für sie nicht zwei getrennte „Substanzen“, die jede für sich eine klar definierte Eigenschaft haben, sondern sie wirken immer im Verbund und in dieser verbundenen Wirkung verändern sie sich wechselseitig.

Was sagt das Yìjīng (I Ching)

Das I-Ching – „Buch der Wandlungen“ – ist eine Sammlung von Strichzeichen und zugeordneten Sprüchen. Es ist der älteste der klassischen chinesischen Texte. (3. Jahrtausend v. Chr.), der lange vor dem gelben Kaiser durch den Fu Hi genannten Kaiser die fernöstliche Weltsicht beschreibt und die Unterscheidung von Yin und Yang einführt.

Fu Hi wählt eine gebrochene Linie ( – – ) für Yin und eine durchgehende Linie ( — ) für Yang und schuf so die 8 Trigramme und die 64 Hexagramme des I Ching.

Doch zunächst wurden aus zwei Linien vier verschiedene „Bilder“ zusammengesetzt: Zwei yange Linien übereinander repräsentieren „Himmel“, zwei yine Linien übereinander repräsentieren „Erde“.

Himmel und Erde sind oben (altes Yang) und unten (altes Yin). Feuer und Wasser befinden sich dazwischen. Feuer hat das Bestreben nach oben zu lodern, deshalb wird es „junges Yang“ genannt (eine yang Linie unten, darüber eine yin Linie). Wasser fließt dagegen nach unten und wird als „junges Yin“ bezeichnet (eine yinLinie unten, darüber eine yange Linie). Die Wandlung erfolgt in einem ewigen Kreislauf: Vom alten Yang (Himmel) zum jungen Yin (Wasser), zum alten Yin (Erde), zum jungen Yang (Feuer), wieder zum alten Yang (Himmel) und so weiter.

Richard Wilhlem schreibt hierzu in seinem Kommentar zum durch ihn übersetzten I Ching:
„…diese Kräfte darf man sich nicht als ruhende Urprinzipien vorstellen. Die Anschauung des Buchs der Wandlungen ist weit entfernt von jedem kosmischen Dualismus. Vielmehr sind diese Kräfte selbst in dauerndem Wandel begriffen.

(Norden = Wasser ist hier oben, der Ki-Zyklus verläuft im Uhrzeigersinn)

Betrachten wir hier das Symbol für Feuer (li), sehen wir, daß die mittlere Linie yin, von zwei äußeren Linien (yang) umgeben ist. Die Erscheinung (außen) ist yang – die Substanz (innen) yin.
Welche Entwicklung ist hier zu beobachten ? Die Phase zuvor weist die Yin-Linie noch an der Basis auf, die nun jedoch die mittlere Linie durchbrochen (yinisert) hat. Es bewegt sich auf einen Zustand zu, in dem alle drei Linien durchbrochen sind.

Jede der Fünf Wandlungsphasen durchläuft in sich selbst eine Verwandlung von yin zu yang oder umgekehrt. Je nachdem, ob die Phase eher von Erdenergie (yin) getrieben ist (aufwärts, dem Yang entgegen) oder von kosmischer Energie (abwärts, dem Yin entgegen gerichtet), können wir die Entwicklungsrichtung erkennen: In der östlichen Hälfte des Wandlungskreises – vom Wasser über das Holz bis zu Feuer – wirken hebende Kräfte, also terrestrische Energie. Es findet also eine Yinisierung statt, gleichwohl ist ihre Eigenschaft yang ist.

In der westlichen Hälfte des Kreises wirken kosmische, zentrierende und verdichtende Kräfte. Das Yang nimmt hier also im Verlauf zu, gleichwohl die Eigenschaft dieser Hälfte eher yin ist.

Gegenüberstellung der sinnlichen Qualitäten

Wenn wir die strittigen Größen „zentripetal“ und „zentrifugal“ einmal ausklammern, können wir die in allen Quellen übereinstimmenden und auch mit unseren Sinnen überprüfbaren yin/yang-Eigenschaften bzw. Wandlungsrichtungen an den Kulminationspunkten ganz gut zuordnen:

YangHolz zu FeuerErde zu Metall
HeißNimmt zuNimmt zu (?)
FestNimmt abNimmt zu
TrockenNimmt ab (?)Nimmt zu
HellNimmt zuNimmt ab (?)
SchwerNimmt abNimmt zu
AktivNimmt zuNimmt ab

Wie wir hier sehr deutlich sehen, überwiegen yang- bzw. yin-Kräfte, sind aber nicht die einzig wirkenden Kräfte.

Ganzheitlich – Das große Und

Die Energetik und die ganzheitliche Betrachtung des Orients ist mit unserer „entweder-oder“-auf-den-Punkt Sichtweise nicht zu greifen. Das UND spielt eine große Rolle und eröffnet ein Verständnis für diese Herangehensweise.

Die Sicht auf die Fünf Wandlungsphasen, wie ich sie seit über 30 Jahren praktiziere, stellt die Dynamik – die Wandlung, eben – in den Vordergrund und vermag daher, Entwicklungsvorgänge sehr treffend zu beschreiben und auch zu gestalten.

Sinnlich ist gut überprüfbar, daß die in Holz und Wind sich bewegende Energie geprägt ist durch Richtung, eine zunehmende Geschwindigkeit und eine Aufwärts-Bewegung – also von der Erde hin zum Himmel. Diese sich beschleunigende Bewegung findet ihren Höhepunkt in der Feuerphase, in der die Richtung zugunsten der Auswärtsbewegung und Auflösung verloren geht.

Die folgenden Phasen – Erde und Metall – werden in ihrer Dynamik zunehmend langsamer, bis zum fast vollständigen Stillstand im Metall, im Stein, im Winter, in der reinen Form und Körperlichkeit.

So können wir beim Feuerelement eine hohe Aktivität (yang) im Außen beobachten, die jedoch in eine maximale Ausdehnung, weg vom Zentrum, hinein in den Raum (yin) sich ausbreitet, um letztlich alle Materie zu verbrauchen. Yin-Kräfte, aus der Yin-Erde zum Yang-Himmel hin sind hier dominant. Hier ist das maximale Yin erreicht.

Beim Metallelement – dem gegenüberliegenden Element, das im Extrem kollabiert – finden wir im Außen, in der Erscheinung, Stillstand (yin). Die Aktivität (yang) im Inneren ist jedoch maximal, da hier komprimierende, konzentrierende Kräfte auf einen einzigen (Mittel)Punkt hin gerichtet sind – so stark, daß die Änderung des Aggregatzustandes erreicht wird. Yang-Kräfte, vom Yang-Himmel zur Yin-Erde hin sind hier dominant. Hier ist das maximale Yang erreicht.

Die wesentlichen Eigenschaften der Fünf Wandlungsphasen sind in allen Werken, Übersetzungen und eben auch gut beobachtbar in der Natur übereinstimmend.
Allein das Verständnis von Yin-Yang – und vielleicht sollten wir sie künftig tatsächlich als Einheit nennen – findet in unserem Wunsch, die Dinge eindeutig zu unterscheiden, seine Grenzen.

Um eine Brücke zu unserem europäischen Geist zu bauen, mag es helfen, sich vor Augen zu halten, daß

  • nichts nur yang oder nur yin ist
  • das Innen und das Außen einer Erscheinung komplementär sind
  • für uns – ob in der Heilkunde oder in der Vorhersage natürlicher Prozesse – das Zusammenwirken, die Wandlung und somit die Dynamik des Yin-Yang-Gemisches von Relevanz und Aussagekraft ist
  • die (yang) Himmelskräfte zur Materialisierung in der (yin) Erde führen und die (yin) Erdkräfte sich hinaus in die yang Himmel formen. Entsprechend verlaufen die Meridiane der Yang-Organe (Zhang) auch von oben nach unten (yang Himmelskraft), und die der Yin-Organe von der Erde hinauf zum Himmel (yin Erdkraft)

Im Daoismus gelten alle Aussagen über die Realität als Symbol und nicht selbst als Realität. Deshalb gibt es keinen Ausschließlichkeitsanspruch für ihre Gültigkeit, es können durchaus verschiedene Aussagen und Theorien nebeneinander bestehen.

Das Prinzip der Fünf Wandlungsphasen mit seinen Zyklen ist so wunderbar leicht anzuwenden und auch für uns analytischen Europäer verständlich. Das Nachvollziehen der sehr komplexen chinesischen Anschauungen zu Energieströmen, Himmels- und Erdzweigen, kosmischen Einflüssen und den sechs Witterungen ist eine ganze Philosophie, die in sich selbst nach analytischen Maßstäben kaum in eine rational-logische Deckung zu bringen ist.

Ich hoffe, mit diesen schon recht fortgeschrittenen Informationen kannst Du nun in aller Ruhe zur Einfachheit und Klarheit der Fünf Wandlungsphasen zurückkehren und Dich ihrem Studium in der Natur widmen.

Anhang zum 5. Kapitel aus dem zweiten Buch des Neijing

Übersetzung von Ilza Veith  Übersetzung von Maoshing Ni

Anhang 2: yang-zentripetal // yin-zentrifugal in diversen Schriften v.a. japanischen Ursprungs

Anmerkung zu den von mir verwendeten Zahlen, die eine andere Elementenzuordnung als im Neijing haben: Die Zahlen, die ich in meinen Kursen in Verbindung mit den Elementen benenne, entspringen dem Nine Star Ki, einem kosmologischen System, das aus dem I Ching hergeleitet und von Michiio Kuchi ausformuliert wurde.
Quelle: „Oriental Astrology“ by Kushi Institute, Massachuettes, 1981

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