Melissas Schoß
Heute bin ich traurig. Denn eine liebe Freundin aus einem benachbarten Gartenprojekt, mit der ich letzte Woche noch den Nachmittag verbrachte, ist ganz plötzlich mit 38 Jahren gestorben. Mein letztes Bild von ihr ist, wie sie mir zusah, als ich den Rhabarber im neuen Gemüsegarten pflanzte, den sie mitgebracht hatte. Dieser Platz im neuen Garten wird fortan „Kristins Zuflucht“ heißen.
Wohin mit der Trauer ? … ruft mein Herz hinaus zu den geliebten grünen Wesen. Mitten im Winter.
Und ich habe Antwort bekommen – nicht nur für mich selbst und meine Traurigkeit, sondern auch für Kristin, die schon so lange so traurig war. Die Melisse hat mir geantwortet, mich gerufen, ihr meine Verwirrung, meine Fragen, meinen Schmerz zu bringen. Und ich ging zu ihr, in Gedanken mit Kristin.
Die Melisse wächst auf Aditi in einem eigenen, ganz besonders verzauberten Flecken: Dem „Minzegarten“. Dort stehen all jene Kräuter, die ein besonders expansives, dem Geistigen zugewandtes Wesen haben ( in der TCM der Holz-/Windenergie).
In dieser Jahreszeit erscheint dort auf den ersten Blick alles braun und ganz in sich zurück gezogen. Doch über dem Garten liegt der gleiche zarte Klang, wie in der lichten Jahreszeit. Sogar de Duft der Minzen und der Melisse ist jetzt noch vernehmbar.
So ging ich zu dem Streifen, in dem unsere Melisse gerade aufwacht.
Ich zögerte etwas, denn über der Erde zeigt sich derzeit nichts Lebendiges, Grünes. Doch ihre Kraft ist spürbar und ihr Erwachen in den nahenden Frühling. So folgte ich ihrem Ruf und setzte mich auf den harten, kalten Boden neben sie. Und lauschte.
Sogleich konnte ich ihre samtweiche Präsenz spüren, ihre sanfte und nährende Berührung. Meine in Trauer zurückgezogenen und verfestigten Empfindungen lösten sich, begannen aufzusteigen und mich auszufüllen. Ich erschrak etwas, denn ich war ja in der Hoffnung auf Linderung zu ihr gegangen, und jetzt begannen diese Empfindungen von Schrecken, Schwere, Bodenlosigkeit sich in mir zu erheben. Doch Melissa nahm mir die Festigkeit, mich zu beherrschen, legte ihren wärmenden Mantel so dicht auf meine Seele, daß ich die Wunde spüren könnte.
Und damit führte sie mich auch zu Kristin, zu deren tiefer Traurigkeit und Haltlosigkeit, mit der sie schon so lange gekämpft hatte. Mit einem Mal saßen wir dort zu dritt: aufgeweicht, irrend, empfindend – und Melissa hielt uns, einfach so.
Und je länger ich in dieser mir naturgemäß fremden Verfassung verharrte, liebevoll geschützt von dem sanften Pflanzengeist, umso mehr lösten sich Schwere und Schmerz, die Energie lockerte sich, begann, sich sachte zu bewegen und zu heben. Ich hatte das Gefühl, daß auch die Präsenz von Kristin sich lichtete und aufstieg und leicht wurde. Ich konnte das Lichtgeflecht einmal mehr vernehmen, das alles mit allem verbindet, das keinesfalls starr sondern in ständigem Fluß befindlich ist – und fühlte mich dabei doch völlig geborgen und genährt.
Nach einer kleinen Ewigkeit erhob ich mich, zutiefst angefüllt mit Dankbarkeit und Zuversicht.
Ich streichelte die dürren Ästchen der Melisse und formte den kleinen Wall aus Erde neu, in dem sie sitzt und sich auf das neue Sprossen vorbereitet, sog den zarten, zitronig-holzigen Duft ein, der erstaunlicherweise noch immer noch über dem Melissenbeet schwebt und verabschiedete mich.
Im Schoße der Melissa hatte ich mich daran erinnert, wie getragen wir alle sind – und zugleich wie fragil. Und daß unsere Verletzlichkeit und Vergänglichkeit ja kein „Unfall“ ist oder „Fehler“, sondern Teil einer Bewegung, die wir „Leben“ nennen.
Zurück im Haus ging ich hinunter ins Lager, gönnte mir ein Fläschchen des Melissen-Destillats, das mich nun sicher noch ein paar Tage begleiten und er-innern wird.
Was für ein zartes, liebevolles und weises Wesen sie doch ist….
Ein ausführliches Profil zu Melissa officinalis und ihrem Wirkspektrum findest Du in meinem Blog in der Sektion „Profile unserer Heilpflanzen“ hier.