Die Fähigkeit, an Krisen zu wachsen
Der Ysop ist auf Aditi eindeutig mein „Lieblingskraut“. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es daran liegt, dass wir uns ähnlich sind oder eher daran, dass er etwas hat, was ich entwickeln und in mich aufnehmen möchte.
Im Pflanzenprofil zum Ysop hatte ich bereits über seine biochemischen und feinstofflichen Eigenschaften berichtet und ihn vor allem als Muntermacher beschrieben. Das hängt vermutlich mit dem hohen Gehalt an Campher zusammen und den belebenden Düften der Limonene und Rosmarinsäure.
Seit es die Anpflanzung auf Aditi gibt, liebe ich es, mich in das blühende Ysopfeld zu setzen. Innerhalb von wenigen Minuten spüre ich nicht mehr Raum und Zeit, befinde mich in einem Fluss der Führung und Fügung. Das ist ganz schwer in Worte zu fassen – deswegen nehme ich meine Kursteilnehmer am liebsten mit zu den Pflanzen, so dass sie es selbst erfahren können…
Doch darüber hinaus entdecke ich mehr und mehr den Charakter dieser leuchtendblauen Pflanze, die den ganzen Sommer von Schwärmen lilaner Schmetterlinge umtanzt ist.
Dieses fast vergessene „Küchenkraut“ birgt ein Geheimnis, das man nicht im Labor und nicht in pharamkologischen Studien entdecken kann.
Ich will versuchen, es zu beschreiben.
Wie Du weißt, war das Jahr 2024 ein „extremes“ Gartenjahr: Nach einem viel zu warmen April kam noch einmal heftiger Frost – fast alle Obst- und Nußblüten kamen zu Schaden. Dann regnete es in Massen und die Temperaturen machten unaufhörlich Sprünge von mehr als fünfzehn Grad – eine Schneckeninvasion fraß alles – wirklich alles – was Chlorophyll enthält, so dass auch die Gemüseernte weitgehend dahin ist.
Glücklicherweise waren einzig die Heilkräuter immun gegen diese Angriffe, Sonnenhut und Salbei blühten in ganzer Pracht, die Kamille und die Minzen verströmten dennoch ihre herrlichen Düfte, die Schafgarbe stand dünner als sonst – dennoch schenkte sie ihr blaues Destillat großzügig. Tiefes Entsetzen packte mich jedoch, als ich sah, daß die Schnecken den Ysop angriffen. Zum Glück nicht im Kräutergarten, doch in allen anderen Bereichen von Aditi, die ich mit diesem Lieblingskraut bepflanzt hatte. Völlig unverständlich für mich – ausgerechnet der stark verholzte, mit dem intensiven Abwehrmechanismus des Campher bestückte Ysop reckte kahlgefressen und trocken seine Ästchen hilflos gen Himmel. Was für ein Trauerspiel, was für eine Verwüstung !
Schweren Herzens begab ich mich zu den Pflanzen, verweilte, tastete, spürte. Alles, was die Augen sehen konnten, war trocken und tot, dahingerafft in der unstillbaren Fraßsucht der Schleimer. Und doch… und dann… setzte der Vorgang ein, den ich in Gegenwart des Ysop kenne und liebe: Mein Raum- und Zeitgefühl verschwanden, reine Präsenz erfüllte mich und das „Antennengefühl“, das für die Gegenwart dieser besonderen Heilpflanze so charakteristisch ist, breitete sich aus. Ich konnte den Zufluss von segensreicher Energie spüren, wie ich ihn immer spürte.
Verwirrt stellte ich den Fokus meiner Augen neu ein, blickte auf die dürre, verholzte und kahlgefressene Pflanze vor mir. Doch zugleich spürte ich den ätherischen, pulsierenden Leib dieser Pflanze, die sich offenbar weitgehend aus ihrem physischen Körper in die feinstoffliche Ebene zurückgezogen hatte – und ganz eindeutig spürbar im Leben und ganz und gar präsent war.
Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das berührte. An einer Pflanze, am Ysop, beobachten zu können, dass das Wechseln der Ebenen, das Übertragen und Bewahren der Lebendigkeit, vom Physischen ins Feinstoffliche – und zurück – eine Bewegung ist, die nicht nur wir Menschen sondern offenbar auch Pflanzen vollziehen können in Krisenzeiten.
Für mich war das eine Offenbarung – und eine Erinnerung: War das nicht genau auch der Weg gewesen, den ich selbst schon gegengen war, wenn die äußeren Verhältnisse zu unwirtlich, zu brutal wurden ? Hatte ich mich nicht ebenso zurück gezogen in meine Innenwelt und in die ätherische Ebene – und dort weiterhin Lebensenergie in Hülle und Fülle empfangen ? Bis sich die Verhältnisse wieder änderten und ich auch meinen Körper und meine weltliche Präsenz wieder ausbreiten und zum Ausdruck bringen konnte ?
Wahrlich, er ist ein großer Lehrer und zarter Begleiter, der Ysop. Und nun beginnt er bereits wieder auszutreiben und seine kleinen, festen Blättchen zu entfalten – im Herbst.
Und es schein mir fast so, als hätte er an Kraft und zentrierter Stille gewonnen. Als hätte er die starke Energie der Krise wandeln können, durch Ver-Inner-lichung, hin zu seiner charakteristischen, lebendigen Strahlkraft.