Volle Kraft voraus – ein Gespräch mit der Wasserminze

Wasserminze

Wie Du wahrscheinlich weißt, arbeite ich hier auf Aditi mit vier verschiedenen Minzesorten: Dem Spearmint (Mentha spicata), der Pfefferminze (Mentha piperita), der Krauseminze (Mentha crispa) und der Wasserminze (Mentha aquatica).

Allen gemeinsam ist ihr expansives, ja: ätherisches Wesen, ihre Wachstumsfreude, ihre Frische und Beweglichkeit. Deswegen habe ich sie alle dem Holz-/Windelement in der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) zugeordnet. Und doch sind sie so ganz und gar unterschiedlich in ihrer Dynamik, in der Resonanz, die sie erzeugen.

Die vergangenen Monate sind so zäh geflossen, vieles erschien lästig, manches schwer, die gewohnte Dynamik und Schaffensfreude fühlte sich irgendwie gelähmt an und ich sehnte mich so sehr nach einem anziehenden Horizont, nach etwas Neuem, Aufregendem, Beflügelndem am Horizont. Nach Entfaltung. Auf der Suche nach einem „Keimimpuls“ für mich nach größter Anstrengung und Verpuppung kam ich einmal mehr der Wasserminze nahe und machte gute Erfahrungen mit ihr.

Es ist mitten im Winter – die Pflanzen haben sich vollständig in die Erde zurückgezogen. Manche, wie Sonnenhut und Wermut, halten noch ihre trockenen Samenstände empor, um die Wildtiere über den Frost hinweg zu nähren.
Behutsam betrete ich den schlafenden Minzegarten. Auf Aditi ist er nach Osten ausgerichtet – so wie es dem Holzelement in der TCM entspricht. Augenblicklich vernehme ich den intensiven Duft: Der Spirit der Wasserminze ist ganz hier, ganz präsent, deutlich vernehmbar – mitten im Winter.

Das Feld, auf dem ich vor Jahren ein paar Stecklinge der Wasserminze ausgebracht habe, ist üppig bedeckt von den letztjährigen Pflanzen. Bald schon werde ich die kräftigen, grasgrünen Röschen unter dem braunen Laub finden können. Und doch weiß ich, spüre ich, wie stark die Brombeeren und Schlehen und Brennnesseln, die ihre endlos langen Triebe unter den Minzegarten geschoben haben, auf die Wurzeln der Wasserminze drücken. Die Spannung im Boden ist spürbar, der Kampf um den Raum wird fortdauern, solange all diese Pflanzen diesen Ort bevölkern.
Doch die Wasserminze ist stark – in die Erde hinein und empor zum Himmel. Die kleine Hilfestellung die ich ihr durch die Befreiung der ersten zehn Zentimeter vor sieben Jahren gab, hat sie genutzt. Die gesamte, ihr zugewiesene Fläche hat sie vereinnahmt – selten durchsetzt von einer zähen Quecke oder einem Brombeertrieb, der sich ans Licht gekämpft hat.

Ich will es ihr gleichtun. Doch wie macht sie das ?
Die Beobachtung über die Zeit lehrt mich, dass sie in der gesamten Keimzeit – bis Anfang Juni – die Kräfte vor allem in ihre unterirdischen Rhizome steckt. An der Oberfläche bildet sie bis dahin nur ebendiese festen, grünen Röschen, die bodennah bleiben und sich nicht weiter entfalten. Indes explodiert der Kräutergarten, alles entfaltet sich, strebt nach oben, bildet Blüten und Tracht. Die Wasserminze jedoch nimmt lange die Sonnenkraft auf und lenkt sie in den Boden.
Doch die unscheinbaren grünen Röschen werden immer kraftvoller, reichern die stark duftenden ätherischen Öle an bis zum Bersten. Und dann, kur vor Sonnenwend, erhebt sie sich, überholt die wuchernde Quecke mühelos, steht auf kerzengradem Stängel und leuchtet mit runden, festen Blättern. Wie ein Donnerkeil, der aus der Erde schießt, versprengt sie ihre Kraft zu einem Zeitpunkt, zu dem alle anderen den satten Teil ihres Weges schon hinter sich haben und der Hitze kaum mehr standhalten können.
Bei über dreißig Grad im Schatten sind ihre weitverzweigten, weißen Rhizome prall gefüllt mit Sonnenwasser. Das Kraut bedeckt den ganzen Bereich wie ein Wald.

Mitten im Winter .. streiche ich über die ausgebleichten, gefrorenen Triebe, die nicht geerntet wurden. Und trotz des Frostes halte ich noch immer feste Substanz in den Händen. Ihr Duft ist stärker als der Geruch von Schnee, der in der Luft liegt. Und dieser Duft erinnert mich daran, dass die Kraft aus der Tiefe kommt, dass Ausdruck und Wachstum nur Bestand haben, wenn ihnen eine Sammlung vorausging. Und dass der Moment der Entfaltung nicht ein objektiver Zeitpunkt ist, sondern ein ganz individuelles Momentum, in dem der ganze innere Raum so angefüllt ist mit Sonnenkraft, dass er bersten muss.

So werde ich meinen Blick abwenden vom ersehnten Horizont und zur Erde, zu meiner Mitte richten. Ich tue es der Wasserminze gleich: Ich fülle meine Rhizome, ich sammle jeden einzelnen Sonnenfunken tief in meiner Mitte. Mehr habe ich nicht zu tun, als dieses Geschenk zu empfangen und zu halten. Der Moment wird dann schon auch noch kommen ….und dann: Volle Kraft voraus !