Inspirationen im Thymian

Wenigstens einmal im Jahr vor der Ernte gehe ich in meine kleine Thymian-Kolonie. Dort stehen die kleinen Wuschelköpfe am Fuße prächtiger Gallica-Rosen, zum Teil beschattet von einer zauberhaften Mutterpflaume.

In diesem Jahr haben die fleißig schwärmenden Bienen mich zu diesem Zauberbaum gerufen und mich darauf aufmerksam gemacht, dass sie wieder die erste der gut 100 Wildpflaumen auf Aditi ist, die blüht. Und sie haben mir gezeigt, dass der Thymian auf seine Pflege wartet, bevor er im Mai seine zarten, rosa Kelche erblühen lassen kann.  

Der Thymian ist in seiner Unscheinbarkeit unglaublich kraftvoll: Nicht nur sein charakteristischer Duft, der schon nach kurzer Zeit meinen ganzen Körper umhüllt, nicht nur der bitzelnd-scharfe Hauch, den er auf der Zunge hinterlässt und mit dem die Bronchien sich weiten: Es ist sein unverkennbares Wesen, seine unbändige Bewegungslust und Wachheit, die mich immer wieder in seinen Bann ziehen.

Während ich mich also ans Werk machte, im Summen der Bienen und in der Duftwolke der blühenden Pflaume, und dem Thymian die alten Ästchen entfernt, den Wurzelballen von Gras befreit und die Pflanzen geschnitten habe, begann eine äußerst angeregte Unterhaltung zwischen ihm und mir.

Ich erinnerte mich daran, wie ich vor sechs Jahren mit größter Mühe und täglicher Fürsorge die Pflänzchen auf dem ausgemergelten, steinigen Boden gesät und gezogen hatte. Es dauerte ewig, bis der Thymian endlich keimte – und gleich neben ihm breiteten sich allerhand andere Wildkräuter aus, die viel schneller wuchsen, als er.

Ich fragte ihn: Wie hast Du das geschafft ?
Und er antwortete: Aditi hat Dir auf dem südlichen Weg zum Medizinrad wilden Thymian gezeigt. So wusstest Du, dass ich bereits auf Aditi bin, dass ich ein teil von Aditi bin und hier gedeihen werde. Du hast einen anderen Ort gewählt – ein Ort, an dem ich mich ohne deine Fürsorge nicht hätte durchsetzen können. Doch dein inneres Bild, deine Hinwendung und Ausdauer haben mir die Kraft gegeben, mich bis hierhin auszudehnen.

Ich stutzte: Wie meinst Du das, „ausdehnen“? Meinst Du, dass Du den ganzen Raum zwischen dem wilden Thymian und meiner Anpflanzung hier einnimmst ?
Der alte Thymian in meinen Händen antwortete: Ja. Der Raum am südlichen Ende von Aditi ist nun bis hierher, bis zu Aditis Zentrum, gefüllt mit meiner Präsenz. Es ist in den ganzen Raum Bewegung, Ausdehnung, Erwärmung, Verfeinerung gedrungen. Eben das, was ich beitragen kann. Wir Pflanzen sind keine „alleinstehenden Individuen“. Wir sind ein einziges Wesen, das an bestimmten Orten körperlich in Erscheinung tritt. Aber jede einzelne Pflanze ist nur ein weiteres, verbundenes Fädchen der Pflanzendeva, die in uns lebt und wirkt. So sind die Pflanzendevas der unterschiedlichen Pflanzenarten wie ein Netz verwoben über große Räume hinweg und können ihre Eigenart im Verbund einbringen. Wir haben keine einzelne Persönlichkeit. Wir sind alle „Thymian“.

Ich wandte mich der nächsten Pflanze zu, schnitt das morsche Holz an ihrer Basis, zupfte das Gras, das zwischen den Wurzeln wuchs heraus und lockerte die Erde um den Ballen. Ich sah auf die kleinen, frisch gesprossten Blättchen und spürte in die Richtung der Stelle auf Aditi, wo ich vor sechs Jahren den wilden Thymian entdeckt hatte. Tatsächlich: Es war wie ein Band geformt, hatte spürbare Grenzen und spannte sich entlang der Benjeshecke bis hinunter zum Medizinrad: Eine sanfte, vibrierende, warme Spur, ein inspirierender, leuchtender Hauch, der vernehmbar war und auch die alten Apfelbäume, den wilden Salbei, die Wiese und sogar die Vögel, Insekten und Eidechsen in diesem Bereich … „belebt“ … hatte.

Die Pflanze im Thymiangarten, der ich mich jetzt zuwandte, sah sehr mitgenommen aus. Fünffingerkraut hatte sich durch ihre Mitte gebohrt, der Wurzelballen ragte bereits weit aus der steinigen Erde heraus, die dicken Äste waren sehr trocken und an vielen Stellen aufgesprungen. Doch auch er trieb fleißig frische Blättchen und duftete herrlich.

So fragte ich: Aber es sterben doch auch einzelne Pflanzen. Und manchmal gehen ganze Kulturen ein. Was bedeutet das für die Deva, für das „Gesamtwesen“ des Thymians ?

Sogleich bekam ich Antwort: Einzelne Pflanzen können auch alt werden – aber eigentlich sterben Pflanzen nicht so, wie Tiere oder Menschen sterben. Wenn der Ort, an dem eine einzelne Pflanze steht, das Wesen der Deva braucht und aufnehmen kann, dann bleibt die Deva und wir treiben neu, auch wenn der größte Teil des alten Körpers abstirbt. Wir erneuern uns immer wieder. Doch manchmal zieht sich die Deva von einem Ort zurück. Denn Du hast ja gesehen, dass der wilde Thymian in einem wilden Verbund mit vielen anderen Devas gewachsen ist. Du musstest den wilden Thymian erst entdecken in der ganzen  Vielfalt. Dieses Gewebe ist wichtig und hat seine eigenen Gesetze. Wenn zu viele Körper von einer Deva an einem Ort sind, wird der Ort schwächer, verliert er an Lebendigkeit und Strahlkraft. Es ist ein Ungleichgewicht, das keinem gut tut – auch der Deva nicht. Und so zieht sich die Deva zurück oder – wenn sie durch menschliche Einwirkung gehalten wird – verarmt der Ort und auch die Deva an diesem Ort. Die Einzelpflanzen dort verlieren ihre ursprüngliche Kraft.

Nachdenklich betrachtete ich die Nachbarpflanzen, sah auf die Reihe von Gallicas, die ich zwischen den Thymian gepflanzt hatte, auf den Lavendel, Salbei und Baldrian und Sonnenhut, die unter der wilden Pflaume in Inseln zwischen dem Thymian wuchsen.

Ich fragte: Sind die Menschen auf diese Weise zu Anbauweisen wie Fruchtfolge und Mischkulturen gekommen ?

Ich spürte ein wohliges Kribbeln auf meiner Haut, es fühlte sich fast an, als hätte der Thymian mich kurz mit einer zarten Wärmedusche berührt. Und er antwortete: Ja, manche Menschen haben das beobachtet und verstanden und angewendet. Manche Menschen sind mit der Erde und ihren Wesen verwoben, wie auch wir Pflanzen es sind.  
Menschen haben jedoch zusätzlich die Fähigkeit, Entwicklungen zu sehen – sie kennen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und so können sie bewusst eingreifen, können der Zukunft bereits heute Gestalt geben und Entwicklungen voraussehen. So werden sie zu Hütern für das Gewebe all der unterschiedlichen Wesen. Wenn sie wollen. Wenn sie lauschen.

Ich vernahm diese Nachricht – wie mir schien, aus der prächtigen, alten Thymianpflanze, an der ich gerade arbeitete – oder war es die Deva ? Ein freudiges Gefühl breitete sich in mir aus, obwohl die Knie schmerzten und die Hände von der langen Arbeit in der Erde schon ganz trocken waren: Was für ein wunderschönes Bild. Die Menschen als Hüter der Wesen. Die Menschen als Gärtner im Garten Eden, der belebt ist von Devas, die einen Regenbogen an unterschiedlichen Lebensqualitäten weben.

Die Bienen waren nicht mehr an der blühenden Pflaume, sie waren zurück in ihre Beuten geflogen, der Himmel färbte sich rötlich und kündete von der rosa Thymianblüte, die schon bald sich entfalten würde. Alles duftete diesen einzigartigen, harzig-würzigen Thymianduft der frisch beschnittenen Pflanzen.
Und so packte ich mein Gerät zusammen und ging ins Haus.
Vor lauter Begeisterung habe ich mir nach diesem erfüllten Tag ein paar Sprüher des Thymian-Destillats auf die Zunge gegönnt. Das war – am Abend – keine gute Idee: Ich war quickwach die halbe Nacht, meine Phantasie schlug Purzelbäume, die Glieder waren warm und wollten sich immer noch weiter bewegen … der Thymian, eben.